Noch ein paar Wochen Lockdown sollten zu schaffen sein. Ich kann das Stöhnen darüber nicht mehr hören, auch mir selbst untersage ich es. Ich gehe einfach weiter morgens joggen, um im Homeoffice beweglich zu bleiben, und frühstücke anschließend Müsli mit Obst und Hafermilch. Ich arbeite fleißig, was soll man sonst tun im Lockdown? Serien gucken macht müde und verdrossen, und mein soziales Umfeld besteht aus meiner Liebsten und meiner Mitbewohnerin. Zum Glück mag ich beide gern. Zum Glück befasse ich mich arbeitsmäßig zumindest teilweise mit politischen und literarischen Dingen. Im Sozialen wie in der Arbeit handelt es sich um selbstgewähltes Glück, und darüber kann man sich bekanntlich nicht beschweren.
Beim Mittagessen denke ich darüber nach, wie gesund grünes Blattgemüse ist und wer mir den Haarschnitt erhält, für den ich mich doch endlich entschieden hatte. Ein paar Stunden später absolviere ich eine Runde Online-Yoga für Rücken und Schultern und atme tief. Warum nicht nutzen, was angeboten wird und funktioniert?
Abends schaue ich eine gut gemachte Dokumentation über die Ursprünge der Schrift und bin ganz hingerissen und überlege, ob ich nicht mehr zum Handschriftlichen zurückkehren sollte. Das Unmittelbare daran; der Draht zu sich selbst. Ich betrachte meine Schreibhand, wie ich es als Teenagerin oft getan habe, in der Einsamkeit meines Jugendzimmers.
Übers Telefon frage ich meine Freundinnen, wie es ihnen mit der Pandemie geht, als wäre sie ein persönlicher Schmerz. Ich frage sie, womit sie sich wohlfühlen, was sie sich an Kontakt vorstellen können, und spüre in verschiedenen Nervenenden, dass es, solange jede für sich zu Hause hockt, keinen Ausweg aus den ewigen Befindlichkeiten gibt.
Yoga? Hafermilch?!, ruft meine Bremer Freundin, die genauso gut in Gibraltar hocken könnte. Sie ruft es in einem angeekelten Ton, als läge das Problem tatsächlich beim Yoga und der Hafermilch. Dabei habe ich ihr gerade erzählt, dass ich angefangen habe, mir Rum in den Hafermilchkakao zu schütten.
Wenn es mich rappeln würde – wenn ich ein Auto organisieren und zu meiner Liebsten, vielleicht zu einem zufälligen Passanten sagen würde, komm, wir fahren einfach los: Wir müssten nur so tun, als wären wir in Arbeitsdingen unterwegs. Wer außer Haus arbeitet, darf notfalls krank werden. In diesem Fall wäre, sich mitten in einer Pandemie anzustecken, kein persönliches Versagen.
Von den Toten und Sterbenskranken bekommt man nichts mit.
Ich kreise zwischen Schlaf- und Arbeitszimmer, Küche und Supermarkt, den immergleichen Straßenzügen, Jogging- und Spaziergehstrecken. Bücher und Klamotten habe ich schon ein paar Mal aussortiert. Vielleicht fange ich bald an, die Raufaser an meinen Wänden mit bloßen Fingernägeln abzukratzen. Es brächte den nackten, puren Putz darunter zur Geltung. Davor ließen sich neue Setzlinge ziehen – in diesen schicken Töpfen mit zart symmetrischem Muster in Gold. Mein kleines Pflanzenparadies. Vielleicht würde sich noch die Katze in gemessenem Ernst daneben setzen, das gäb ein hübsches Bild: Stay the fuck home my home is my castle. Warum nicht zum Abziehbild eines Milieus werden, das sich unaufhaltsam Richtung Biedermeier bewegt?
There is no such thing as society, raunt es aus Margaret Thatchers Grab, there are individual men and women and there are families.
Die Freundinnen, die mit Mann und Kind zusammenleben, schließen aus Infektionsgründen die Schotten; ich kann’s ihnen nicht übelnehmen und stehe trotzdem vor verschlossener Tür. Meine Pandemiefamilie, bestehend aus Liebster, Mitbewohnerin, mir selbst sowie zwei Katzen, ist verhältnismäßig gut. Mir geht’s ja gut. Ich bin halbwegs jung und gesund und vollgepumpt mit kulturellem Kapital. Ich bin todeshungrig auf Gesellschaft, Öffentlichkeit, leibhaftige Menschen, leibhaftige Gespräche, Trunkenheit und Tanz. Anschließend könnte man ja rasch wieder nach Hause gehen.