Eine Hälfte

Nach einigen Jahren habe ich wieder einen Roman meiner Säulenheiligen Simone de Beauvoir gelesen: Die Mandarins von Paris, ein opulentes und abenteuerliches Werk über die Situation einiger Pariser Linksintellektueller und der mit ihnen assoziierten Frauen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Linksintellektuellen und ihre Frauen: Das zu schreiben ist unangenehm, trifft aber den Kern meiner inneren Zwiegespräche mit dem Buch.
Nach allem, was ich über de Beauvoir weiß (ich habe einige Romane und drei der vier Memoirenbände gelesen sowie natürlich Das andere Geschlecht), nach allem, was ich von ihr weiß, hat sie ihr Erleben und Nachdenken der Nachkriegsjahre in zwei Figuren aufgespalten: den Schriftsteller und Journalisten Henri Perron und die Ich-Erzählerin Anne Dubreuilh, die Psychoanalytikerin, aber hauptsächlich Liebende ist.
Dass der Roman auch als Schlüsselroman gelesen wird, und wer nun Sartre darstellen könnte und wer Camus, interessiert mich nicht so sehr.
Anne und Henri, die beiden Hälften, sind verbunden durch Annes Mann Robert Dubreuilh, Henris Mentor und langjährigen Freund, und ihre Tochter Nadine, eine von Henris Geliebten. Ansonsten haben sie nicht viel miteinander zu tun. Henri schlägt sich mit der Frage herum, ob es jenseits der vorbehaltlosen Zustimmung zur kommunistischen Partei einen gangbaren politischen oder literarischen Weg gibt. Außerdem diskutiert er über viele Seiten hinweg mit Dubreuilh und anderen Männern über die Macht und Ohnmacht der Intellektuellen und verschiedene weitere Fragestellungen. Im Ganzen und abgesehen von seinen Frauenbeziehungen ist er eine integre und interessante Figur, die ihren Hälftencharakter gut wegsteckt.
Anne hingegen muss um ihre Lust und ihren Lebenssinn schwer kämpfen. Trotz der großen Freizügigkeit der Affären und Liebesbeziehungen, die de Beauvoir darstellt, bewegt sie sich innerhalb enorm patriarchaler Formen. Die offene Ehe, die sie führt, nutzt vor allem Robert. Als Anne, nach einigen Jahren der Enthaltsamkeit, mit einem seiner intellektuellen Weggefährten das Hotelzimmer teilt, zeigt jener Scriassine mitten im Geschehen auf seinen Pimmel und spricht tadelnd: „Sie lieben das männliche Geschlecht nicht.“ Anne reagiert schuldbewusst – als Analytikerin weiß sie über die eigenen Komplexe genauestens Bescheid. Auch ihre Patientinnen und Patienten behandelt sie auf eine recht orthodoxe und leidenschaftslose Weise. Es gibt einige Randbetrachtungen über die Kriegstraumata etwa einer ehemaligen KZ-Insassin, die Anne therapiert; aber sie führen sie nicht zu weiteren und tieferen Überlegungen. Die Psychoanalyse wird ihr nicht zum ureigenen Feld.
Wichtiger ist Anne das Leben an der Seite des scheinautonomen Robert, der ihre Gegenwart lächelnd hinnimmt und dabei schreibt und schreibt, ohne auch nur den Kopf zu heben. Anne sieht ihm zu und stellt bei sich fest: „Mehr noch als Robert sind mir die Individuen – eines ums andere genommen – wichtig, ebenso der Luxus eines Privatlebens: die Gefühle, die Kultur, das Glück. Ich muss denken können, dass sich die Menschheit in der klassenlosen Gesellschaft vervollkommnen wird, ohne sich dabei in irgendeiner Hinsicht zu verleugnen.“ Sie denkt diese Gedanken, ohne sie jemals aufzuschreiben oder auch nur ernsthaft ins Gespräch zu bringen. Mit einem Seufzer erinnere ich mich daran, dass eine ähnliche Ich-Figur de Beauvoirs, Françoise aus Sie kam und blieb, immerhin Schriftstellerin ist … In Die Mandarins von Paris gibt es keine schreibende, keine aktiv intellektuelle Frau wie Simone selbst. Einerseits ist es natürlich indiskret von der Leserin, dergleichen zu verlangen; andererseits verstört mich, dass Anne von vornherein als halbe Figur angelegt ist. Der Roman ist 1954 erschienen, fünf Jahre nach dem Anderen Geschlecht, mit dem Simone de Beauvoir einen theoretischen Grundstein für die Zweite Frauenbewegung legte.
Annes Tochter Nadine wirft ihr vor, sich in schmutzigen Zeiten kühl und rein halten zu wollen. Nadine selbst will – nachdem ihr Liebster von den Deutschen ermordet wurde – nur der Lust und dem Abenteuer leben. Die Adjektive, mit denen de Beauvoir die Achtzehnjährige am häufigsten kennzeichnet, sind „bockig“ und „patzig“, dazu beschreibt sie Nadine als zu nachlässig gekleidet und zu ungraziös, um eigentlich weiblich zu sein.
Simone de Beauvoirs immer wieder durchscheinende Begeisterung für das wahrhaft Weibliche, die schöne, die vollendete, die unberührt in sich ruhende Frau – ist sie die Kehrseite ihrer starken Identifizierung mit dem intellektuellen, dem männlichen Subjekt?
Nadine nervt, berührt mich aber auch, vor allem weil Anne sich bewusst ist, dass sie ihre Tochter nicht recht liebt. Zwischen den beiden Frauen besteht keine wirkliche Beziehung, nur schlechtes Gewissen und stummer Vorwurf. Ähnlich geht es Anne mit der dritten Frauenfigur, ihrer Freundin Paule, die die Selbstaufgabe in der Liebe gewählt hat und darüber verrückt wird. Ich erinnere mich, dass diese Leere zwischen den Frauen mir auch in Sie kam und blieb auffiel. Xaviére folgt der älteren Françoise, weil sie fasziniert von ihr ist, und wird von ihr verniedlicht, erzogen, erotisiert, dem Begehren ihres Lebensgefährten überantwortet und schließlich zum Monster gemacht. Eine stabile, liebevolle, streitbare Beziehung zwischen Frauen – eine intersubjektive Beziehung – ist in beiden Romanen nicht möglich, weil die Frauen zu wenig Subjekte sind.
Schließlich verliebt sich Anne in den amerikanischen Schriftsteller Lewis Brogan. Über Jahre hinweg fliegt sie zu ihm nach Chicago und lebt fast nur für diese Liebe: „Ich schloss die Augen. Wieder lastete der Körper eines Mannes auf mir, überschwer von Vertrauen, von Begierde. Ich war weggegangen, aber ich war wiedergekommen: Ich hatte meinen Platz gefunden und war von mir selbst befreit.“ Annes Emphase zeigt die weibliche Subjektivität in der schillernden Dialektik des subiectum, des „Daruntergeworfenen“, das sich darin verwirklicht, von oben bzw. außen gesetzt zu werden, statt sein Leben aus eigenem autonomem Antrieb zu gestalten.
Jetzt komme ich doch auf den Schlüsselroman zurück. Die Liebe zu Lewis ist ein Widerhall von Simone de Beauvoirs großer Liebe zu Nelson Algren, den sie – wie im dritten Band der Memoiren beschrieben – schließlich verließ: für ihre Bücher und Artikel, für Paris und für Sartre. Diese drei bildeten die Konstituenten ihrer Subjektivität als Schriftstellerin. Hier zeigt sich, glaube ich, eine Grenze, eine innere Ungereimtheit der Figur Anne Dubreuilh. Sie hat, aufgrund ihrer Komplementarität mit Henri Perron, keinen vergleichbaren Konflikt. Warum entscheidet sich Anne nicht ganz und gar für Lewis, durch den sie sich als Frau gesetzt fühlt, wie es ihrem tiefsten Begehren entspricht? Warum kehrt sie zu Robert zurück, der sie im Grunde nicht braucht? Warum kehrt sie zu ihrer Tochter zurück, die sie zu wenig liebt, und zu ihren Patienten, zu denen sie nichts treibt? Als sie nach der Trennung von Lewis nach Hause kommt, denkt Henri, der eine Menge anderes im Kopf hat, lapidar: „Anne war entschieden gealtert und trank zu viel Whisky.“
Hat de Beauvoir vielleicht eine lebbare, aber noch keine literarische Form für Frauen wie sich selbst gefunden – innerhalb der Geschlechterverhältnisse der 1940er und 1950er in Frankreich? Aus der Perspektive der laxen Erbinnen, fast schon Enkelinnen der Zweiten Frauenbewegung müssen das unvorstellbar harte Zeiten gewesen sein. Ich möchte nicht noch einmal auf Scriassines Zeigefinger zu sprechen kommen.
Anne Dubreuilh teilt das Schicksal, das Simone de Beauvoir den Frauen attestiert, sie bleibt – bei all ihrer Klugheit, ihrer Bildung und ihrem Begehren – eine arme Hälfte. In der klaren Darstellung der Mandarins ist das so folgerichtig wie deprimierend.