Morgens beim Bäcker bestellt ein gutsituiert aussehender Graukopf ein Frühstück mit Kaffee, Wurst und Käse, und während er im Portemonnaie kramt, legt sein Handy plötzlich mit dem Deutschlandlied, erste Strophe los. Er schaut mit einer gewissen Hast um sich, drückt das Lied weg. In der Schlange wird getuschelt, war das grade wirklich Deutschland, Deutschland über alles, montagmorgens im hübschen Leipziger Westen? Eine Frau nickt, sagt, sie müsse aber schnell zur Arbeit. Die zwei jungen Männer hinter mir regen sich auf, ich bin froh drüber und mache mit. Einer der beiden geht zum Deutschlandfan und wird belehrt, das Abspielen der ersten Strophe sei nicht verboten, er solle sich mal informieren. Er kommt zurück und googelt, der andere junge Mann und ich stehen um ihn herum und regen uns weiter auf. Der Verkäufer bittet uns, zur Seite zu gehen, wir sagen, der Typ dort hat grade die erste Strophe des Deutschlandlieds gespielt, und der Verkäufer lacht ein bisschen, ach, mit so was kenne er sich gar nicht aus. Wenig später bittet er uns wieder, zur Seite zu gehen, wir machten ihn ganz nervös. Mittlerweile haben wir rausgefunden, dass es tatsächlich nicht verboten ist, die erste Strophe in der Öffentlichkeit zu spielen – sie gilt nur nicht als Nationalhymne. Der Engagierte geht zurück in die Schlange, ich bin fast froh, dass er nach dieser Information, entgegen seinem ersten Impuls, davon abgesehen hat, die Polizei zu rufen. Warum die Polizei rufen, dachte ich, die Chancen stehen gut, dass der Wurst- und Käsemann Beamter des Freistaates Sachsen ist.
Die Zeiten werden dunkler. Ereignisse in Leipzig, Dessau, Clausnitz, aber auch in Hamburg und in Frankfurt am Main haben gezeigt, wie es sich immer wieder mit den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen der Polizei verhält, sobald es um Migranten und Linke geht; seither ist mein Misstrauen gegenüber Uniformierten noch gestiegen. Und schlimmer noch: Es weitet sich aus auf jeden selbstbewusst daherkommenden sächsischen Mann. Ein kaum merkliches Kopfeinziehen stellt sich ein, aus Angst, einen rassistischen Kommentar oder gleich das Deutschlandlied aufzuschnappen und den Arsch zum entschiedenen Widerspruch hochkriegen zu müssen. Ich ärgere mich darüber – als hätte ich ein Recht auf einen unbescholtenen Alltag. Ich ärgere mich darüber, dass ich manchmal froh bin, keine Migrantin zu sein und als Lesbe, Feministin, Antifaschistin meistens nicht erkennbar. Die Dämme brechen überall, und meine ängstliche Defensive, die ich mit so vielen Leuten und vor allem Institutionen teile, ekelt mich an. Unter der jetzigen russischen, polnischen, ungarischen, türkischen, brasilianischen Regierung und deren Exekutivorganen haben Leute wie ich jeden Grund, den Kopf einzuziehen – ich habe ihn noch nicht.
Die Zeiten werden dunkler, sie färben sich von den Rändern her ein. Manchmal kann ich das wegwischen wie einen Schleier, den unbestimmten Druck eines Alptraums, der morgens verschwunden ist. Manchmal geht das Grauen nächtelang nicht weg, die Frage, wie die Welt in zwei, fünf, zehn Jahren aussieht.
Es ist ein altes Grauen. Als Kind bin ich manchmal aufgewacht und hatte fürchterliche Angst vorm Tod: eine Angst, die durch kein Spielzeug, kein Buch, keinen schönen Gedanken zu beschwichtigen war. Auch am Tag überfiel sie mich gelegentlich, sie schob sich zwischen mich und die Anderen wie eine durchsichtige Wand, die die Sinne und die Verständigung mit ihnen beeinträchtigte. Alles war normal, die Sonne schien auf den Pausenhof und in meiner Hand lag ein Brot mit Margarine und Käse, in das man ein Loch bohren konnte oder auch nicht, und ich biss hinein und spürte am Gaumen eine nachgiebige, geschmacklose Masse, die keinen rechten Sinn ergab. Die Angst hallte wider in mir, ich war ganz ausgefüllt davon, ganz ausgeleert, und abends würde sie lauter werden, nicht mehr übertönt von Gesprächen, auch nicht von Fernseher und Radio. Am Tag wartete die Angst in den Zimmerecken, ein feiner, höhnischer Riss durchzog den Himmel, wahrnehmbar nur für mich: Egal wie freundlich die Dinge aussehen – alle Menschen müssen sterben und werden im Sarg liegen und verfaulen. Zuerst die Großeltern, klar, ein Opa ist ja schon gestorben. Dann die Eltern und Frau Goldberg, die Lehrerin. Dann der Bruder, die Freundinnen, oder doch ich selbst? Das lachende Gesicht, die baumelnden Arme meines Bruders, der sich abends vom Doppelstockbett herunterhängen lässt; ich lache über seinen Quatsch, gebe Quatsch zurück und denke: Wann bin ich an der Reihe?
Was hier vielleicht metaphysisch anmutet, war eine frühe Variante des Zweifels, in der Welt am Platze und willkommen zu sein: als diejenige, die ich nun einmal bin. Diese Gewissheit ist die Grundvoraussetzung nicht nur für ruhigen Schlaf und unbeschwerten Pausenbrotverzehr, sondern überhaupt für die Beschäftigung mit der Welt, für Neugier, Genussfähigkeit, auch für Streitbarkeit. Als ich erwachsen wurde, mit neuen Leuten und neuen Gedanken, kam ich langsam in die schöne Situation, diese Zuversicht aufbringen zu können: Ich glaubte, leidlich verstanden zu haben, wie diese Welt funktioniert und wo ich meinen Platz darin finden könnte, zwischen den Dingen und unter den Menschen.
Die Zuversicht begann im Sommer 2015 zu bröckeln, als ich die Flüchtlinge mit Sack und Pack und wund gelaufenen Füßen in Hamburg ankommen sah. Ihr Elend, das so unverdient war wie mein eigenes ökonomisches Wohlergehen, warf die alte Frage nach dem Bösen in der Welt wieder auf. Wann würde es mich erreichen? Wann würde sich die mühsam errungene Zuversicht als die grobe Illusion entpuppen, die sie immer gewesen war – ich hatte es doch gewusst?! Das Unbehagen äußerte sich in einer wilden Angst vor terroristischen Anschlägen, die mich einige Monate lang begleitete und jeden Anschlag sorgfältig notieren ließ, um wenigstens im Kopf Ordnung zu schaffen. – Dann kamen der Brexit, Trump, Chemnitz. Und seit einigen Monaten spukt die sächsische Landtagswahl durch meine Nächte, die im Herbst ansteht und das Umkippen ins Barbarische beschleunigen wird. Mit mir im Bett liegen Dresdner Bürger, die, als es um die Seenotrettung Geflüchteter ging, Absaufen! skandierten.
In diesen Tagen fällt es mir schwer, meinen inneren Angsthaushalt, der mein Verhältnis zur Welt entscheidend prägt, von den politischen Verhältnissen zu unterscheiden. Oh ja, es gibt objektive Gründe, Angst zu haben und dieser Angst entgegenzutreten – mit Kritik und dem, was sich Zivilcourage nennt. Es bleibt, die politische Sorge von der subjektiven, psychologisch zu erforschenden Angst zu trennen. Ich dulde keine Dresdner Bürger in meinem Bett! Und doch sind es auch meine ureigene Angstneigung und die damit einhergehende Irritierbarkeit, die mich als Kritikerin ausmachen.
Auf dem Nachhauseweg vom Bäcker sehe ich die Risse am Himmel sehr deutlich. Zum Glück sind‘s noch ein paar Stunden bis zum Abend; der Tag liegt vor mir und die zwei Brötchen in meiner Papiertüte sind sogar noch ein bisschen warm.