Ich fahre als Prüferin für den Deutschtest für Zuwanderer nach Magdeburg: samstagmorgens halb fünf, mit der kalten grauen Klammer ums Herz, die ich seit einiger Zeit habe, wenn ich Leipzig Richtung Provinz verlasse. Und auch diesmal täuscht sie mich nicht. Die Taxifahrerin, die mich nach meiner Zugverspätung zum Prüfungszentrum kutschiert, kommentiert: Ach, in diese komische Schule wollnse … Na, Sie wissen schon. Ja, ich weiß schon. Zum ersten Mal in Magdeburg? Ich sag‘s Ihnen gleich, mit der Innenstadt isses nich weit her, die is noch in der Nacht vom 16. Januar 45 in Grund und Boden gebombt worden.
In der mündlichen Prüfung sind die Teilnehmer freundlich und aufgeregt wie immer: siebzehn unbekannte Schicksale. Eine besticht mein Germanistinnenherz (von dem sie nichts weiß) mit der Auskunft, sie lese Goethe auf Arabisch, das finde sie sehr schön. Eine Andere berichtet, dass sie als Arabischlehrerin für kleine Kinder arbeiten will, und wegen ihrer strengen Verschleierung und ihrer zornigen Augenbrauen habe ich dabei kein gutes Gefühl. Zwei Leute, die ein Picknick zusammen planen sollen, streiten sich, ob es Alkohol geben soll, beide mit etwa gleich großer Vehemenz; bis der Abstinenzler mit den Achseln zuckt und großmütig sagt: Ich trinke Cola, du trinkst Bier, egal!
Ein Anderer schluckt und bekommt rote Augen, als meine Kollegin nach seiner Heimatstadt fragt: Afrin. Seit Tagen sei jede Verbindung abgebrochen, er wisse nicht, ob seine Eltern noch leben. Meine Kollegin und ich sehen uns an, dann fragt sie nach seinem beruflichen Fortkommen und er antwortet, er sei Dönermann im Hauptbahnhof, das sei sehr schön. Als er das Picknickgespräch mit seinem eritreischen Mitprüfling führen soll, dem einzigen Schwarzen in der Gruppe, würdigt er ihn keines Blicks.
Und alle erklären Magdeburg für sehr schön: viele Kirchen, viele Kinos, viele Sehenswürdigkeiten und Fluss Elbe. In der Pause erzählt die Vertreterin des Prüfungszentrums, es sei schon schlimm hier mit der Fremdenfeindlichkeit. Nicht nur die Leute, die mit der Bierflasche vorm REWE stehen und Kopftuchträgerinnen beschimpfen – sie selber werde, wenn sie mit einem schwarzen Freund durch die Straße gehe, regelmäßig als „Negerschlampe“ tituliert, vor allem von älteren Leuten, und sogar beim Arzt hätten sie erschrocken gefragt, ob der jetzt mit ins Wartezimmer kommen müsse. Sie habe ihn draußen warten lassen. Die denken halt nicht nach, sagt sie.
Montag, du kannst mich mal!, steht auf einer Postkarte, die über ihrem Schreibtisch hängt. Ich fahre durch den sonnigen Samstagnachmittag zurück nach Leipzig und versuche zu schlafen. Zwei Freundinnen feiern heute Abend ihren Geburtstag, das wird bestimmt sehr schön, ich will doch nicht todmüde sein.