Pöbel spielen

Ich singe sehr gern Chorstücke, in denen Aggressivität verhandelt wird. Zum ersten Mal wurde mir das angesichts bestimmter Renaissance-Lieder bewusst: etwa Mein Lieb will mit mir kriegen von Hans Leo Haßler. Darin ist von Liebesstreit die Rede, geführt mit fliegenden Fahnen, spitzen, herzblutgetränkten Pfeilen und zornglühendem Gemüt. Ähnlich ging es mir mit dem Spiritual The Battle of Jericho, den der amerikanische Komponist Moses Hogan zu einem höchst kriegerischen Satz gestaltet hat. Fernab der bloß allegorischen Andeutung reckt Joshua darin sehr anschaulich den Speer und bläst die Posaune, bis – krach – die Stadtmauern fallen, mutmaßlich Männer, Frauen und Kinder unter sich begrabend, und das Volk Gottes mit treibenden Rhythmen und einem alle Stimmen durchziehenden Triumphgeschrei in Jericho einzieht.
Am deutlichsten wurde mir mein Faible für Militanz im Chorgesang beim Paulus von Felix Mendelssohn-Bartholdy, einem Oratorium, das den Werdegang des Apostels Paulus darstellt. Anfangs ist Paulus ein Jerusalemer Schriftgelehrter, der sich in der Verfolgung der christlichen Minderheit hervortut. Er erscheint als gerichtlicher Zeuge bei der Steinigung des Predigers Stephanus, die das von Paulus aufgehetzte Volk fordert: „Weg mit dem! Er lästert Gott, und wer Gott lästert, der soll sterben!“ Die moralische Entrüstung steigert sich zum geeinten, vielmals wiederholten Ruf: „Steiniget ihn! Steiniget ihn!“, worauf der Tenorsolist lapidar informiert: „Und sie steinigten ihn.“
Es macht großen Spaß, mit voller Stimmkraft das aufgerührte Volk zu geben, es bereitet mir eine Lust, die ich als kathartische Wirkung des Pöbel-sein-Dürfens bezeichnen würde. Als ich das Stück mit meinem Hamburger Rentnerchor einstudierte, erschien vor meinem inneren Auge tatsächlich ab und zu die Bevölkerung Springfields mit gereckten gelben Fäusten. Der unverstellte Rückgriff auf Gewalt in diesen alten Geschichten hat etwas Faszinierendes, über das die Moralistin und Menschenfreundin in mir den Kopf schüttelt. Im Fall des Paulus geht es um die Wandlung eines Christenschlächters zum frommen Apostel, der sich dem Pöbel entgegenstellt, auf die Kraft der Liebe und des heiligen Worts vertrauend. Dennoch ist die Gerichtsszene genauso farbig und eindrücklich ausgestaltet wie später die Szene, in der ein anderer uneinsichtiger Heidenpöbel, wiederum den Herrn Jesus verleugnend, mit zärtlicher Melodie singt: „Seid uns gnädig, hohe Götter.“ In Schönheit, Anschaulichkeit und Länge stehen sie den christlichen Chören und Chorälen nicht nach. Mendelssohn, scheint es, hatte seinen Pöbel ziemlich gern. Ob er wohl eine kathartische Wirkung dieses Werks auf die bürgerliche Zuhörerschaft beabsichtigt hat?

Als Studentin bekam ich große Ohren, als Christoph Türcke in seiner Vorlesung von der Reinszenierung des Schreckens sprach, die aller Ästhetik zugrunde liege. Am Anfang der Kulturgeschichte stand das Bedürfnis, Zwang, Not und Gewalt, denen die Menschen in ihrer feindlichen Umwelt ausgesetzt waren, in eine halbwegs erträgliche Form zu bringen. Die Wiederholung des Schreckens mit menschlichen Mitteln, z. B. in Ritualen oder Anrufungen, hegt den Schrecken ein. Das kann helfen, das Trauma der realen Gewalt zu verarbeiten, indem es diese reale Gewalterfahrung noch einmal aufruft, aber unter abgeschwächten Bedingungen: Das Individuum, das einem Schauspiel oder einem chorsinfonischen Werk beiwohnt, weiß, dass es sich dabei um fiktionale Steinigungen handelt, und dass man, aller Ergriffenheit ungeachtet, am Tag nach dem Konzertbesuch früh aufstehen und arbeiten gehen muss.
Romantische Kunst lädt ein, sich der ästhetischen Illusion in hohem Maße hinzugeben; dennoch ist hier die Distanz zum realen Trauma weit fortgeschritten. Die Steinigung des Stephanus, die Paulus‘ Ausgangslage illustriert, muss der zeitgenössischen Zuschauerin als archaische Kuriosität erschienen sein, als romantische, zum Kunstgenuss einladende Kulisse – anders, als es bei einer Aufführung im heutigen Iran der Fall wäre, wo nach Scharia-Recht Steinigungen vollzogen werden. Dabei bleibt in der romantischen Kunst die Absicht unverkennbar, das reinszenierte Leiden in den Sinnzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft zu stellen. Paulus‘ religiöse Wandlung geschieht auf irrationaler Grundlage – Gott offenbart sich ihm –, macht ihn aber zum eigenständigen Bürger, bereit, für seine individuellen Überzeugungen einzustehen, und darin als Vorbild dienend.
Mendelssohns Darstellungen des enthemmten Pöbels spielen mit der blutigen Geschichte, sie kosten ästhetisch aus, was durch die biblische Quelle legitimiert ist. Die Erregung, die damit ausgelöst wird, ist abgemildert, Türcke zitierte dazu Rilke: „Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang / den wir noch grade ertragen.“ Wir haben es also mit einem lustvollen Bezug zur Aggressivität zu tun, der darum weiß, dass Liebeskummer, Massaker und Steinigungen keine vergnüglichen Ereignisse sind; aber das anvisierte Publikum kann sich genügend historische, fiktionalisierende, über die Musik vermittelte Distanz leisten, um diese Schrecklichkeiten zu genießen.
Dass es darauf ankommt, den Schrecken in die eigene Regie zu nehmen, weiß ich als Feministin schon lange. Der destruktivste Weg, mit Aggressivität umzugehen, besteht darin, sie zu verleugnen und abzuspalten, wie Frauen es im Patriarchat seit jeher tun müssen. Kleinen Mädchen wird (mehr oder weniger subtil) beigebracht, ihre aggressiven Regungen zu unterdrücken, bis sie kaum mehr wahrgenommen werden. Keinesfalls darf die Aggressivität nach außen getragen werden, wo sie mit den Bedürfnissen anderer Menschen und der Institutionen, in denen man verkehrt, dialogisch vermittelt werden könnte. Genau das wäre ein sehr notwendiger Lernprozess nicht nur in Sachen Frauenemanzipation. Aggressivität, als emotionaler Grundbestand, muss kultiviert statt plump verboten werden – genau wie Sexualität oder der Konsum von Rauschmitteln. Diese Kultivierung steht nicht nur im Interesse der gesellschaftlichen Disziplinierung der Individuen (wo sie immer Gegenstand von Gesellschaftskritik sein muss), sondern auch im Dienst des Genusses.
Im unkultivierten Zustand ist Aggressivität zerstörerisch und ziemlich ungenießbar. Anders verhält es sich mit sublimierter, ins musikalische Werk gegossener Aggressivität. Sie ist kontrolliert – um wie viel mehr noch in einem sechsstimmigen Mendelssohn-Satz als in Pop und Rock –, sie kann beliebig aufgerufen und genossen werden und läuft dabei nicht aus dem Ruder. Im schlechteren Fall nimmt der Kunstgenuss der eigenen Aggressivität den Stachel, die Wucht, mit der sie sich auf den bevormundenden Mann, die Arbeitgeberin, den Staat richten müsste. Mir drängt sich ein Bild von einem Lohnabhängigen auf, der nach getaner Arbeit mit überhöhter Geschwindigkeit und wummernden Bässen nach Hause fährt, vielleicht das einzige kleine Freiheitsgefühl in seinem Alltag. – Im besseren Fall werden über die Kunst Erfahrungen und Erkenntnisse vermittelt, die über das Alltagserleben von Aggression allein nicht möglich gewesen wären, zumindest nicht in diesem Reichtum von Empfindungen, Impulsen, Assoziationen.

Haßler, der Renaissance-Komponist, lenkt die Aggressivität in seinen Liebesliedern, indem er Teile des Chors energisch gegeneinander führt. Mein Lieb will mit mir kriegen hat eine doppelchörige Struktur, ähnlich wie der Doppeltitel Ich brinn und bin entzündt gen dir / Brinn und zürne nur immerfort. In beiden Liedern gehen zwei Parteien, offensichtlich ehemals Liebende, in flammender Wut aufeinander los und machen der anderen ihre Gekränktheit zum Vorwurf. Bemerkenswert ist, dass es in diesen Liebeshändeln keine ordentliche Konfliktlösung gibt, keinen Kompromiss, der sich an irgendeinem vernünftigen Maßstab orientieren würde. Ich brinn und bin entzündt lässt der Anklage die Antwort folgen, dass Zorn und Hass ebenso herzlich erwidert werden: „Achtst du dann nichts mein Lieb und Gunst, acht ich viel minder dein Zorn und Brunst. / So brinn und zürne, so lang du wilt, dann mir eins wie das ander gilt.“ In Mein Lieb will mit mir kriegen kapituliert die anfangs siegesgewisse männliche Partei und unterwirft sich: „Ich bitt, schenk mir das Leben, dein G’fangner will ich sein.“ Dieser gewissermaßen voraufklärerische Zustand der Liebe, der vom feministischen Standpunkt keinesfalls zu wünschen wäre, ist zur Ableitung und zum Auskosten eigener Affekte sehr geeignet.
Im Paulus hingegen findet sich der Chor, wie beschrieben, zu einem prächtigen Lynchmob zusammen, einem skrupellosen Kollektiv. Der Logik des Steinigens entsprechend, ist es am Ende keiner gewesen: wieder eine antiindividualistische und recht unvernünftige Haltung, die politisch nicht wünschenswert, aber in einigen Weltgegenden furchtbare Realität ist. Aber beim Singen dieser Partien ergibt sich die sinnlich-körperliche Erfahrungsmöglichkeit, guten Gewissens Pöbel zu spielen. Eine seltene Möglichkeit: Teil eines Pöbels zu sein, der auf Angehörige einer verfolgten Minderheit losgeht, ist im moralischen Horizont einer Linken zu Recht tausendmal tabuierter als Liebesschmerz.