Zweimal Marseille

Im schönen, schönen Marseille habe ich Transit von Anna Seghers gelesen. Es hat mir die Seghers näher gebracht, vor allem, weil Marseille darin treffend wiedergegeben ist: das Getümmel, die vielen Menschen mit ihren Plänen und labyrinthischen Hoffnungen, die Unbarmherzigkeit ihrer Schicksale; das Glücksversprechen des Hafens, Sonne und Mittelmeer und die Schärfe des Mistral. Zu Schulzeiten hat mich Das siebte Kreuz ziemlich gelangweilt – ich glaube, weil mich schon damals die ungebrochen männliche Perspektive von Seghers‘ Schreiben störte. Es ist nicht, dass ich als feministische Autorin es ablehnen würde, männliche Protagonisten zu entwerfen; auch frauenverachtende Idioten dürfen darunter sein. Aber es stört mich, dass Seghers ihre Protagonisten völlig ungebrochen männlich gestaltet: Als exemplarische Schicksale von Deutschen, die vor den Nazis fliehen, sind sie geschlechtsneutral angelegt, ihre Männlichkeit ist kein Thema. Vielmehr bedient sich Seghers der alten patriarchalen Gleichsetzung von Mann und Mensch; das macht die Erzählperspektive überdeutlich männlich. Seghers‘ Romane würden wohl allesamt durch den Bechdel-Test fallen: Es kommt einfach nicht vor, dass mindestens zwei Frauen miteinander sprechen, und dann noch über etwas anderes als über Männer. Das einzige Verhältnis, das zwischen Nadine, der Geliebten des Protagonisten von Transit, und Claudine, der Frau seines Gastgebers Georg Binnet, möglich ist, wird kurzerhand so umrissen: „Binnet und ich hatten immer viel Spaß an unseren Frauen, von denen die eine so hell war wie die andere dunkel. Die Frauen aber waren eifersüchtig und konnten sich nicht leiden.“
Ich habe Bekannte kritisieren hören, dass der Bechdel-Test, den die Comiczeichnerin Alison Bechdel zur Beurteilung von Filmen entwarf, eine ziemlich platte Sache wäre; aber mir scheint, das Patriarchat äußert sich recht oft in platten Sachverhalten. Einer besteht darin, dass Frauen in Kunstwerken fast nur in Relation zu Männern vorkommen, vorzugsweise als deren libidinöse Objekte. Auch der namenlose, in Marseille gestrandete Held aus Transit hat diesen Blick auf Frauen und keinen weiteren. Sie gelten ihm noch in ihren härtesten und konfliktreichsten Stunden ausschließlich als begehrenswert oder nicht begehrenswert. Die manische Getriebenheit seiner zweiten Geliebten Marie, in die er sehr verliebt ist, interessiert ihn nur insofern, als sie ihn daran hindert, Marie näher zu kommen. Anna Seghers‘ verdinglichendes Verhältnis zu ihren weiblichen Nebenfiguren lässt sich in einem einzigen Satz ihrer wunderbar klaren Prosa zusammenfassen, in der der Protagonist seine Situation überblickt: „Ich hatte nur diese eine Jugend, und sie ging daneben. Sie verflüchtigte sich in den Konzentrationslagern und auf den Landstraßen, in den öden Hotelzimmern bei den ungeliebtesten Mädchen und vielleicht noch auf Pfirsichfarmen, wo man mich höchstens duldete.“
Durchs herbstliche Marseille flanierend, lasen wir George Sand und sprachen darüber, warum Anna Seghers – anders als der Sand hundert Jahre zuvor – ihre Situation als Frau kaum literaturfähig gewesen zu sein scheint. Als sie 1940 in die Transitstadt Marseille kam, muss es für eine alleinreisende Frau mit zwei Kindern unvergleichlich viel härter gewesen sein, sich durchzuschlagen, als für einen jungen, bindungslosen Mann. Abgesehen von den üblichen Schwierigkeiten, sich im Literaturbetrieb als Frau mit Frauenthemen durchzusetzen, hängt ihre Entscheidung für die männliche Erzählperspektive vielleicht damit zusammen, dass Seghers sich stets als kommunistische Künstlerin verstand. Laut der marxistischen These vom Nebenwiderspruch hat die kommunistische Umwälzung der Verhältnisse Vorrang vor dem Kampf gegen die Frauenunterdrückung. Da Seghers den Kommunismus nach sowjetischem Vorbild als einzige vernünftige Alternative zum Faschismus ansah, nimmt es nicht wunder, dass ihr Schreiben während der Nazizeit dieser These entsprach. Es wäre ihr wohl nicht möglich gewesen, auf der chaotischen Flucht durch das auseinanderbrechende Frankreich die Schwachstellen der eigenen Weiblichkeit literarisch zu fokussieren: die Gefährdung durch sexuelle Gewalt, die Verantwortung als Mutter. Erst in der bestürzend vollkommenen Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, die später im mexikanischen Exil entstand, gestaltete Seghers eine ganze Oberschulklasse weiblicher Figuren – die zum Zeitpunkt der Erzählung allesamt deportiert, ermordet oder durch eigene Hand gestorben sind. Ich habe nicht alles von Anna Seghers gelesen: Aber ich vermute, es gibt keine Perspektive weiblicher Befreiung in ihrem Werk. Die Konflikte zwischen Kommunist-Sein und Frau-Sein wurden erst eine Generation später von den großen DDR-Autorinnen Christa Wolf und Brigitte Reimann literarisch dargestellt. Zu deren Zeit war die Debatte um weibliches Schreiben, befördert von der Zweiten Frauenbewegung, in vollem Gang.
Ich frage mich auch, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Seghers‘ Vernachlässigung des weiblichen Schicksals und ihrer Ignoranz gegenüber der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die in den Zeitromanen Das siebte Kreuz und Transit nicht vorkommt. Seghers stammte aus einer orthodoxen jüdischen Familie und hat über das Judentum bei Rembrandt promoviert: Was es heißt, in einer judenfeindlichen Gesellschaft Jüdin zu sein, wusste sie also aus eigener Erfahrung sowie aus der kunsthistorischen Beschäftigung heraus. Es scheint, Seghers hat in ihrem literarischen Schaffen auch in dieser Hinsicht die Erfahrung gesellschaftlichen Außenseitertums zurückgestellt – zugunsten einer Hoffnung auf allgemein-menschliche Emanzipation hin zum Kommunismus. Das wird im Roman kaum expliziert; der Protagonist hat vom Kommunismus keinen Schimmer. Dezent kommunistisch ist nur die Nebenfigur Heinz mit den hellen, scharfen Augen, die man sich wahrscheinlich so vorstellen muss wie Seghers‘ Prosa: humanistisch und getragen von einem „unbeirrbaren Glauben“, der im Anderen das Gute aufrührt. In der nüchternen Perfektion ihrer Sätze irritiert nur das überflüssige n in Cannebiére, der Hauptstraße, die runter zum Hafen führt … Man wird empfindlich, wenn man selber da gewesen ist.