Mein Kaffee heißt Koschka

Ich trinke gerne Kaffee bei Starbucks und kauere mich dazu mit meinem Buch in einen dieser furchtbar bequemen Riesensessel. Ich gehe lieber zu Starbucks, als mich der Atmosphäre anstrengender Nettigkeit auszusetzen, die viele alternative Cafés erfüllt: wo weißlackierte Klappstühlchen und angeschlagene Sahnekännchen vom Flohmarkt mit dem prekären Lächeln von Lars und Inga wetteifern, mir Wohlgefühl und Individualität zu vermitteln, zu Preisen, die sich mit denen bei Starbucks durchaus messen können. Die Präferenz für die Kette wurde mir wieder deutlich, als ich neulich mit zwei Freunden in einem dieser netten und niedlichen Cafés in Schleußig frühstücken ging, wo der Ziegenkäsesalat Zickiges Lieschen heißt und dergleichen. Der dortige Lars menschelte uns schon von weitem entgegen: Naaa – Soja Latte wie immer? – Und dann, mit betroffenem Blick auf das verbundene Handgelenk meines Freundes David: Oh, was haste denn da Schlimmes gemacht?!
Bei Starbucks hingegen ist alles hübsch standardisiert, rationalisiert und anonym; mein Handgelenk schert niemanden; und die Sessel sind furchtbar bequem. Dass das leider doch nicht stimmt, zumindest nicht der Teil mit der Anonymität, musste ich vor einigen Wochen erfahren; und ich werde zukünftig weniger gern zu Starbucks gehen. Das kam so:
Ich hatte eben meinen Cappuccino bestellt und sah mich nach dem bequemsten freien Riesensessel um, als die Bedienung mit dem grünen Starbucks-Käppi mich nach meinem Namen fragte.
Wieso?, fragte ich zurück.
Na, damit wir dich rufen können, wenn dein Kaffee fertig ist.
Koschka heiß ich, sagte ich, schon etwas schuldbewusst. Ich ahnte, dass nichts Gutes auf mich zukam.
Ich packte Tasche und Jacke an den Sesselrand, holte mein Buch raus und setzte mich; und klappte voll Unruhe das Buch wieder zu und stand auf und schlich wachsamen Blicks um die Theke. Als der nächste Cappuccino auftauchte, in einer der hübsch standardisierten weißen Tassen, griff ich zu, bevor die Servicekraft den Mund auftun konnte, und floh.
Recht schnell stellte sich heraus, dass sich unter dem Milchschaumhäubchen ein anderes Produkt verbarg als mein Cappuccino. Diese Feststellung erfolgte ungefähr gleichzeitig mit dem lauten Ruf „Koschka!“ von der Theke; und ich wusste, ich hatte alles falsch gemacht. Ich verachtete mich für das ängstliche Herzklopfen, mit dem ich die Tasse zurückbrachte und mich bei der Angestellten mit dem grünen Käppi entschuldigte und gleichzeitig bei dem rechtmäßigen Eigentümer dieses Getränks, der mich schon von weitem gemustert hatte. Die Servicekraft antwortete mit einem Schulterzucken und wies mit dem Kinn auf meinen Cappuccino, der wartend auf der Theke stand – sie habe einen neuen Kaffee „für Thomas hier“ in Arbeit. Es war ganz klar: Es hatte hier kein bedauerliches Missverständnis in einem Dienstleistungsverhältnis gegeben – sondern ich, Koschka, hatte versagt. Die Starbucks-Verkäuferin, die den Kaffee ein zweites Mal zubereiten musste, und der Starbucks-Kunde Thomas, der vergeblich auf seinen Namensruf gewartet hatte, waren enttäuscht von mir persönlich.

Dass man den Leuten aber auch um jeden Preis ihre Anonymität entreißen muss. Sich im öffentlichen Raum anonym bewegen zu können, ist ja doch eine grundlegende Errungenschaft der urbanen Lebensweise, eine Freiheitsmöglichkeit, die ich um keinen Preis missen möchte. Ich schätze sehr das Flanieren durch die Großstadt, wie es Malte Laurids Brigge tut, ganz Auge und Ohr und hingegeben an die Beobachtung: Brigge, der Protagonist von Rilkes gleichnamigem Roman und eine der ersten modernen Romanfiguren überhaupt, verliert sich in seinen Erkundungen der Stadt Paris. Er nimmt ihre Gesichter, ihre Gerüche, ihr Elend in sich auf, und findet sich gerade durch diese intensive Rezeptivität auf sich selbst verwiesen. Die Gleichgültigkeit, die Paris dem noch ganz unbekannten Maler Brigge entgegenbringt, gewährt ihm die Distanz, seine bisherigen Erfahrungen und Verluste zu reflektieren und sich in ein künstlerisch produktives Verhältnis zu ihnen zu setzen.
Passivität, das Nicht-einbezogen-Sein in die Geschehnisse ringsum, ist die beste Voraussetzung für Kontemplation: das interesselose Schauen, das ausgiebige Gucken und Glotzen aufs Tun der Anderen, die unwissentlich zu Objekten meiner Schaulust werden. Es ist fast das Schönste, was ich kenne. Seit ich einen erheblichen Teil meines Lebens mit Lohnarbeit verbringe, weiß ich die Momente noch viel mehr zu schätzen, in denen ich nicht agieren und nicht reagieren muss, sondern einfach gucken darf, mich beobachtend amüsieren und entsetzen darf, in trägen und milden Formen des Amüsements und des Entsetzens. Dieses Interesse an fremden Schicksalen ist nicht unbedingt mitleidlos; aber naschhaft und ohne soziale Verantwortung.
Das große Geschenk der großstädtischen Anonymität funktioniert am besten unterwegs – im Zug, im Ausland oder in einer fremden Stadt. Es funktioniert auch, wenn man die betreffende Großstadt schon sehr gut kennt: In ihrer Eigenschaft als Großstadt erwidert sie die Bekanntschaft nur bedingt. Die passive Lust, sich treiben zu lassen, stellt sich zuverlässig ein, wenn ich mich an einem öffentlichen Ort mit Buch und Kaffee niedersetze; sie ist ein dringend nötiges Aufatmen von all dem Sozial- und Gegenwärtig-Sein, das der Tag mit sich bringt.
Wie lächerlich, die großstädtische Einsamkeit und Verlorenheit auslöschen zu wollen, indem Konsumenten wie Konsumprodukten individuelle Rechte verliehen werden! Ich möchte nicht, dass die Angestellten von Starbucks meinen Namen wissen, genauso wenig wie die Lidl-Verkäuferin, die sich bedauerlicherweise meine Girokarte näher angucken muss, um Frau Linkerhand, die soeben Brühwürfel und Mandelschokolade gekauft hat, einen ganz persönlichen guten Tag zu wünschen. Ich möchte mir nicht jedes popelige Menü am Imbiss und jede gottverdammte Playlist selbst zusammenstellen müssen; und ich möchte keinen personalisierten Zugang zu meinem Betriebssystem, möglichst um jedes Mal von meiner eigenen Visage und meinen eigenen eingespeicherten Vorlieben begrüßt zu werden. Ich mag lieber informative Vorträge anhören und dann still nach Hause gehen, als ständig meinen Namen und meinen Werdegang auf Workshops wiederzukäuen – seien es berufliche Fortbildungen oder politische Seminare –, deren Ziel darin besteht, dass jedermanns Meinung geäußert und wertgeschätzt werde.
Die weit verbreitete Nötigung, sich die Welt persönlich einzurichten, spricht von einer ganz erstaunlichen Abwehr der Erfahrung von Anonymität. Sicher, die soziale Vereinzelung, mit der man sich alltäglich herumschlägt, ist ein harter Brocken. Dennoch: Ich muss mich sehr anstrengen, um zu verstehen, dass vielen Leuten das Fremdsein so sehr unangenehm ist. Fremdsein kann immerhin bedeuten, sich einstellen zu können auf etwas Anderes, das man nicht selber verzapft hat und das nicht der eigenen Kontrolle unterliegt; es kann bedeuten, endlich einmal nichts darstellen zu müssen. Die gefällig gestaltete weiße Tasse mit dem Starbucks-Logo enthebt mich der Notwendigkeit eines individuellen Geschirrgeschmacks – sie ist mir fremd, ganz äußerlich, sie dient mir lediglich für einige Minuten als Trinkgefäß. Die Darreichung des Kaffees ist kein Liebesdienst, sondern eine Dienstleistung, für die ich bezahle. Ich selbst bin es, die mir diesen Genuss verschafft. Mein Herz wird nicht zu Dank und Smalltalk verpflichtet; es bleibt fremd und frei und aufnahmefähig fürs kontemplative Lustwandeln.
Man müsste der Figur des Taugenichts, des Flaneurs nachgehen, die seit Beginn der Moderne durch die Künste geistert: als einer, der Weltengetriebe und Produktionsprozess lieber sinnend aus der Ferne betrachtet, als sich allzu sehr zu involvieren. „I touch no-one and no-one touches me“, so beschreiben Simon & Garfunkel eine träumerische Illusion von Autonomie, die eher menschen- als arbeitsscheu ist. Oh ja: Beobachten statt berühren, das ist ein unschätzbarer Modus, ein Luxus und mir unverzichtbar. Scheiß auf die Kontrolle, das Sichtbar- und Eingerichtetsein! Ich wünschte, ich würde mir trauen, beim nächsten Mal an der Starbucks-Theke wenigstens zu sagen, ich hieße Susanne.