Abgesehen von meiner jugendlichen Begeisterung für Akte X, die ungeklärten Fälle des FBI, konnte ich mich nie für Science Fiction erwärmen. Auch damals war es eher das Agenten-Traumpaar Dana Scully und Fox Mulder, das meine dreizehnjährige Phantasie beflügelte, als die Story von der großen Verschwörung der US-Regierung mit außerirdischen Mächten und von Implantaten, die die Gedanken unbescholtener Bürgerinnen protokollieren.
Dennoch habe ich vor kurzem Solaris von Stanisław Lem gelesen – und muss mein altes Urteil revidieren: Die Geschichte vom erdgroßen Planeten Solaris, der abwechselnd um eine rote und eine blaue Sonne kreist, sodass immer ein rötlicher auf einen weiß-bläulichen Tag folgt, ist von überraschender Schönheit.
Der einzige Bewohner von Solaris, der aber leider die Kommunikation verweigert, ist ein alles umspannender Ozean, der aus intelligentem Plasma besteht und beständig die aberwitzigsten Figurationen produziert und wieder zerstört. Alles, was auf Solaris entsteht und vergeht, sind Hervorbringungen dieses Ozeans – vielleicht auch die Gedanken und Wünsche der Solaristen, die von der Erde zur Forschungsstation fliegen, um den neuen Planeten wissenschaftlich zu untersuchen und über seine Nutzbarkeit zu spekulieren. Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz werden die Solaristen zu Opfern der unendlichen Gestaltungskraft des Ozeans, der etwa die suizidale Geliebte des Protagonisten Kris Kelvin wiederauferstehen lässt und ihn damit dem Wahnsinn entgegentreibt. Ob der rätselhaften Materie tatsächlich Geist und Absicht innewohnen, bleibt offen: für die Solaristen ebenso wie für die Leserin. Der Ozean gibt keine Antworten, er spiegelt nur die Illusionen der Forscher wieder, die ihn zu verstehen trachten.
Eine hübsche Eigenschaft von Science Fiction besteht darin, dass vielleicht gerade der Wille zur utopischen Verfremdung, zur Variation von allzu Bekanntem, ihre Zeitbezogenheit parodistisch sichtbar macht. Schaut man heute Akte X, wird nicht nur anhand von Scullys schwungvoller Frisur klar, dass die Serie ein Kind der Neunziger ist. Akte X handelt beispielsweise von den Untaten eines knochenlosen Schlangenmenschen, der durch den Luftschacht eines Bürokomplexes kommt und mit weit ausgerenktem Kiefer Lohnabhängige runterwürgt: ein Plot, dem auf beinah anrührende Weise die Hilflosigkeit gegenüber einer politischen Situation anhaftet, in der der konkrete, verstehbare Feind abhanden gekommen ist. An die Stelle der untergegangenen Sowjetunion, die von der antikommunistischen Ideologie ordentlich dämonisiert worden war, tritt in Akte X das sogenannte Paranormale: gestrandete Ufos, Kornkreise, multiple Persönlichkeiten und vampirische Pizzaboten, Geisterseherinnen und eine alles vertuschende Regierung. Angst und Misstrauen werden nicht mehr auf einen großen äußeren Feind projiziert, sondern richten sich gegen die Dämonen unter uns – das gesellschaftlich Verdrängte. Die Bösewichte in Akte X werden häufig von missachteten Minderheiten repräsentiert: von den Anasazi, karibischen Voodoo-Anhängerinnen, Giftmischern aus China Town, Menschen mit Behinderungen oder Mutationen; und immer wieder ist es die gräuliche Russenmafia, die mit Koks wie mit Nieren dealt und dabei, scheinbar assimiliert, ihr Büro gleich neben unserem unterhält. Aber auch die unauffällige Amerikanerin, die Nachbarin und Kollegin, rächt sich für die Demütigungen, die ihr die Lohnarbeit oder die Liebe bereiten, mit futuristischen Experimenten und tödlichen Perversionen und gerät damit ins Visier der FBI-Agenten, die immer mit allem rechnen: „Trust no one“, ist Agent Mulders paranoider Grundsatz, mit dem er meistens Recht behält. Das Anrührende setzt sich in dieser blühenden Phantastik der paranormalen Phänomene fort; und darin, dass die Täter selten abgrundtief böse sind. Oft handeln sie aus Verzweiflung über ihr ungesehenes Außenseitertum und sehnen sich im Grunde nur nach Liebe und Wärme und der Zugehörigkeit zu einer anständigen Masse der Guten.
Ähnlich schimmern in Solaris, erstmals 1961 in Polen veröffentlicht, nicht nur die Emaillegriffe von Omas Teekessel durch, die hier zur Ausstattung von Raumschiffen gehören, sondern auch das historische Vorbild der Kosmonautik. Die kosmonautische Wissenschaft sollte im Kalten Krieg die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Forschung und Technisierung beweisen. Das geschah mit zweifelhaftem Sinngehalt für das Wohlergehen der Menschheit – und in Konkurrenz zur US-amerikanischen Astronautik. Die Solaristik ist also einer Wissenschaft nachempfunden, die unter höchster Geheimhaltung in zwei verfeindeten Ländern betrieben wurde und aus demselben Grund sogar zwei Namen trägt.
Auch im Roman bleibt ungewiss, ob die Solaristik, deren Vertreter auf der Erde wie Helden gefeiert werden, nicht bloßer propagandistischer Selbstzweck ist. Bei der Führung einer Schulklasse durch ein solaristisches Institut fragt eine Streberin: „Und wozu das Ganze?“ – worauf ihre Lehrerin wie die Institutsvertreter in peinlich berührtes Schweigen verfallen. Die Solaristen, ein noch ungestörterer Männerhaufen als das FBI, arbeiten sich daran ab, dass der Ozean nicht der menschlichen Logik der Zweckgerichtetheit folgt und nicht den zahlreichen solaristischen Fachbüchern, die einander ständig widersprechen. Ebenso kokettiert Akte X mit den Grenzen der rationalistischen Weltanschauung und lädt zum unterhaltsamen Spiel mit immer neuen Verschwörungstheorien ein – die mich aufgrund meines jugendlichen Alters schnell überzeugten. Heute freue ich mich darüber, dass die Mystifikationen, die Akte X vornimmt, im Rahmen des Spielerischen und oft Selbstironischen bleiben, die wahrscheinlich Erkennungszeichen guter Science Fiction sind.
Beiden Fiktionen, Akte X wie Solaris, bin ich dankbar, dass das Grenzüberschreitende darin letztlich nicht verifiziert wird. Fox Mulder kann trotz intensivster Jagd keinen Außerirdischen dingfest machen; die X-Akten zeichnet es geradezu aus, dass sie ohne finale Beweise geschlossen werden. Am Ende jeder Folge bleiben dampfende Gullydeckel, trashige Mystik-Klänge, die sinnenden Gesichter des Agentenpaars und die düstere Vermutung, dass es nicht vorbei ist. Auch Kris Kelvins Forschung führt nicht zu Erkenntnissen über das Wesen von Solaris; Lem verweigert eine positive Auflösung, was es mit dem Planeten nun auf sich hat. Der solarische Ozean bleibt Projektionsfläche für die Solaristen wie für die Gesellschaft auf der Erde: ein unerreichbarer weißer Wal. – „Starbuck“, nach dem Steuermann des Waljägers Kapitän Ahab in Moby Dick, ist Dana Scullys familiärer Kosename.
Kelvin erscheint der Ozean zunehmend als erbitterter, vielleicht göttlicher Gegenspieler. Er, der den Kampf gegen ihn und seine Gespinste bis zum bitteren Ende fechten will, muss schließlich feststellen: „Das ist der einzige Gott, an den ich zu glauben geneigt wäre, einer, dessen Qual keine Sühne darstellt, nichts erlöst, zu nichts dient, nur da ist.“ Wen aber interessieren solche theologischen Überlegungen? Wohl weniger den Ozean, dessen Muskelstränge unablässig pulsieren, formen und zerstören, als die Solaristen, die sich am meisten vielleicht vor ihrer Rückkehr auf die Erde fürchten.