Ein wenig zu meiner eigenen Überraschung stürze ich mich in diesem Jahr auf Weihnachten. Ich umhalse das Fest der Liebe, der schönen Chorstücke und des täglichen Tässchens Glühwein, als gäbe es nichts Schöneres und Wichtigeres, als wäre alles wie immer – als würde die Welt nicht immer verrückter werden; als würde nicht allein die Diskussion um das Kulturgut Weihnachtsmarkt von allen Seiten immer irrsinniger werden.
In meiner Sehnsucht nach Alltag und Beständigkeit plus ein bisschen Feststimmung freue ich mich über jeden Schwibbogen, der sich in ein hanseatisches Fenster verirrt hat, und denke mittlerweile nur noch selten daran, dass der Weihnachtsmarkt vorm Altonaer Bahnhof, wo ich mein Tässchen Glühwein genieße, jeden Moment in die Luft gehen könnte.
Dieser Tage habe ich ein Konzert meiner alten Vorweihnachtsheldin Georgette Dee besucht. Seit Jahren schmückt die heiter-tragische Diva Georgette Dee meinen Advent, bisher stets im Leipziger Centraltheater. Ich pflegte mit meinem alten Stammtisch dorthin zu gehen, der sich über die Jahre nicht nur räumlich, sondern auch weltanschaulich in alle Winde zerstreut hat. Gleichviel: Zu Georgette Dee wurde der eine oder andere Fummel rausgeholt und das eine oder andere Piccolöchen mit in die Loge geschmuggelt, auf dass man trinke und kichere und schluchze zu Chansons, Schlager und Popsongs über Sehnsucht und Suff, die Georgettes eigene Werke sind oder Neuinterpretationen von Bette Midler bis hin zu Element of Crime. Dazwischen erzählt Georgette ausladende Phantasiegeschichten von minderjährigen Prinzen und hübschen Seemannsärschen aus aller Herren Länder. Das wird sekundiert von ganz pragmatisch dargebrachten Haushaltssorgen und Alterszipperlein: Man kann nicht romantisch im Fenster liegen und die Sterne besehn, wenn die Bandscheibe keinen kalten Zug mehr verträgt … Am Ende ist sie meistens so betrunken, dass die tiefe Verbeugung vor dem Publikum runterwärts sehr schwungvoll geht, nach oben nicht mehr ganz so leicht. Dann folgen einige Vorhänge und eine Parodie auf Marlenes Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, Georgettes Hymne, wozu sie nur noch stumm auf den gerade besungenen Körperteil zeigt und die Welt als großen fragwürdigen Kreis in die Luft malt; während am Flügel Terry Truck virtuos und, ja, liebevoll, die bekannte Melodie weiterführt.
Auch in der fremden Großstadt schwoll mein Herz, kaum dass Georgette die Bühne betreten hatte – in gewohnt großer Robe, mit blonder Perücke, unzähligen Drinks und dem wackeren, in Ehren ergrauenden Pianisten Truck. Sie erzählte die Geschichte vom Knaben Schneerabe, der so schmerzhaft schön war, dass er vor seinem neidischen Stiefvater, dem König, fliehen musste, mitten im schneeverwehten Winter, und in die Hände der sieben Lost Boys geriet, wo ihm nicht nur der Prinzenstatus, sondern bald auch die Jungfräulichkeit abhanden kam … Darauf folgte eine Reiseerzählung vom Garten Gethsemane, vor dessen goldenen Toren ein zauberhafter Palästinenserjunge (schwarzes Haar und glühend rote Lippen wie Schneerabe) der einsamen Urlauberin etwas von der Heiligkeit des Ortes, nun ja, geblasen hat.
Was mich an Georgette Dee bewegt, ist, dass sie – eine seit den 80ern bewährte Travestiefigur – eine einzige Ode an die guten Dinge des Lebens ist: die Lust, den Rausch, die Schönheit der Sprache, der Landschaften und der Sexualobjekte. Georgette verkörpert die Absurdität der Liebe und die hoffnungslose Romantik, die gerade im flüchtigen Begehren lauert – gemischt mit einer Prise Trauer über die Vergänglichkeit des Rausches, des Sommers und des jugendlichen Körpers. Georgette besingt den Lebensgenuss als Höchstes und dasjenige, dessen Ernsthaftigkeit ganz außer Frage steht; und sie ist wunderbar gleichgültig gegenüber der Betriebstüchtigkeit am Morgen danach. Es scheint mir eine spezifisch schwule Ästhetik darin zu liegen, eine, die aus historischen Gründen stark von Augenblickslust und Todesverachtung geprägt ist. Sie zeigt sich am vollendetsten in dem Chanson Die großen weißen Vögel, den Georgette Dee von einer anderen Diva abkupfert, Ingrid Caven:
„Weit draußen auf dem blauen Meer
erklingt ein Lied von Wiederkehr,
ein Lied vom Leben.
Matrosen singen es zur Stund,
da sie den Freund dem Meeresgrund
tot übergeben. […]
Der schöne Seemann, wie ein Stein,
sank in die tiefe Flut hinein,
in eine Wiege.
Zur selben Stund hoch in der Luft
ein großer weißer Vogel ruft:
den Tod besiege!“
Georgette Dee beschwört großes Pathos – lässt es aber, anders als Caven, nicht in voller Größe stehen, sondern ironisiert es gleich darauf, sie bringt es in zwischenmenschliches Format zurück. Beispielsweise gibt sie einen ihrer bedeutsamen Träume wieder, es geht um Hybris, die Unmöglichkeit des Glücks, um tiefen Fall, und Georgette kommentiert sich selber: „Ich gehöre ja zu den Künstlerinnen, die es sogar im Traum schaffen, über ihre Stola zu stolpern und sich auf die Fresse zu legen.“
Georgette weiß viel von der Größe und der Komik, die es bedeutet, Individuum bzw. Individualistin zu sein, ein kleines Licht mit großen Rosinen im Kopf. Alle ihre kabarettistischen Stücke gehen von der Einzelnen und ihrem Gefühlsleben aus, die sich nicht widerspruchslos einer Idee oder einem System einfügen, so gern man das manchmal auch hätte, und die daher allen Zugehörigkeiten mit Komik und einer Reihe Spitzen gegenübersteht. Das gilt sympathischerweise auch für die Propaganda von der Nicht-Zugehörigkeit: „Wir sind ja so sehr befreit, man weiß gar nicht mehr, wozu man sich zusammenrotten soll.“
Dennoch – explizites Politisieren gibt es nicht bei Georgette; so hatte ich es noch vor Beginn des Konzerts meinem Freund Kolja erklärt, der mich begleitete. Umso erschrockener war ich, als sie letzten Montag in Hamburg, mitten in diesem unruhigen Advent, dann doch mit dem expliziten Politisieren anfing.
Es war einen Monat nach den Anschlägen von Paris und wenige Tage, nachdem Frankreich sich in den Regionalwahlen mehrheitlich für den rechten Front National entschieden hatte; womit auch nach Koljas Ansicht die Faschisierung Europas vor der Tür steht. Nach der ersten Fuhre Lieder und dem Schneerabe-Märchen appellierte Georgette im Gestus der alten Lebedame, die ihre besten Zeiten hinter sich hat, an die „Fünfundzwanzigjährigen“ im Saal: „Wir müssen ganz schön stark sein, wenn wir so bleiben wollen, wie wir gerne wären.“ Furchtbar ernst sagte sie den schönen Satz. In diesem Sinne ging es weiter: Wir, die Fünfundzwanzigjährigen, müssten das Chaos im auseinanderbrechenden Europa ausfechten. Dazu ging sie, jetzt schon ziemlich angesäuselt, mit ungewohnt redundanter Bissigkeit auf diejenigen los, die die indianische Vorstellung von acht Geschlechtern verteidigten, oder wie viele es auch seien, da kenne sich doch keiner mehr aus … und dazu Sternchen hinter jedem Substantiv! Und dieser Veganismus, um Gottes willen, schmecken müsse es doch; und sie verspeiste mehrere kleine Schokoweihnachtsmänner, ursprünglich die Tischdeko, die ihr einige Konzertbesucher bereitwillig zuwarfen, und rief nach einem neuen Drink. Etwas ungerichtet wirkte diese Verzweiflung, als wäre das andeutungsreiche Spiel mit Genuss, Geschlecht und Exotik schon nicht mehr im Rahmen des Möglichen und der Untergang der abendländischen Halbwelt beschlossene Sache.
Ich war ganz außer mir: Die unverwüstliche Georgette, deren Welt die Liebe ist und sonst gar nichts, zeigt sich derart touchiert von den politischen Ereignissen! Wenn nicht allein der Papst von Weltkrieg spricht, sondern auch die Institution Georgette Dee, umflossen von Kunstlicht und Lebenslust, sichtlich erschüttert ist vom Lauf der Dinge – dann ist das ein kleiner Weltuntergang. Wenn Georgette nach dem fünften oder auch dem siebten Whiskey besagte Stola rafft und seufzt: „Keep Europe upright!“, dann liegt darin so viel Untergangsbewusstsein, dass es mir kalt den Rücken runterläuft. Ich hätte nicht vermutet, dass mich ausgerechnet Georgette Dee in meinem apokalyptischen Blues bestärken würde.
Oh ja, erschüttert: Das ist mein Advent in diesem Jahr.