Die Zeiten werden verrückter. Meine Freundin, nennen wir sie Mona, hat es am eigenen Leib erfahren. Das kam so: Mona, Sozialpädagogin, hat einen Workshop in Sachen Familienaufstellung besucht, tief im Thüringer Wald in einer Institution, die sich Sonnenhaus nannte und beanspruchte, ein Ort des heilsamen Zusammenkommens zu sein.
Man nahm Platz in der Räucherstäbchenatmosphäre des Sonnenhauses und begann gleich mit der ersten Aufstellung. Für die, die davon noch nichts gehört haben: Es handelt sich um eine psychotherapeutische Methode, eine familiäre Konstellation oder einen familiären Konflikt darzustellen und zu besprechen, indem man die Konstellation mit Figürchen oder gleich mit echten Menschen nachstellt. Diese werden, je nach Rolle, nah oder weit entfernt vom Aufsteller positioniert und Stellvertreter genannt. Menschliche Stellvertreterinnen und Stellvertreter haben die Besonderheit, dass sie sich in die ihnen zugewiesene Rolle einfühlen und ihre Eindrücke formulieren können, nach dem Muster: Wie fühlt es sich für mich an, als Mutter von meiner Tochter so auf Distanz gehalten zu werden? Die daraus entstehenden Aussagen sind natürlich mit großer Vorsicht zu genießen, spielen doch eigene Wünsche und Projektionen der Stellvertreter in deren Rollenempfindung mit hinein. Das hatte sich auch Mona gefragt und war mit großer Skepsis – und zusammen mit ihrer enthusiastischeren Kollegin Mel – nach Thüringen gefahren.
Dort begrüßte die Sonnenhäuslerin Sybille Mona, Mel und vier andere Teilnehmerinnen, darunter ihre bessere Hälfte Christian, der mit ihr anscheinend das Haus wie die Workshops bestritt. Mel stellte als Erste auf. Mona wurde zu Mels Mutter ernannt und Sybille avancierte zum Großvater. Sybille störte sich nicht daran, dass Mona und ihre Kollegin auch privat befreundet waren und Mona einige von Mels Elterngeschichten bereits kannte; auch dass sie als Workshopleiterin selbst eine tragende Rolle übernahm, fand Sybille nicht widersprüchlich. Sybille nämlich entpuppte sich als Anwältin des frei fließenden Gefühlsstroms, den solche individuellen Befindlichkeiten nicht kümmern.
Opa Sybille stieg denn auch gleich richtig ein: Dass sein Vater in der Wehrmacht gekämpft habe, dafür könne er doch nichts! Er habe eben dort seine Männlichkeit unter Beweis gestellt. – Jawohl, apropos Scheißnazis, rief sie. – Früher, als die Männer noch nicht solche Memmen waren wie heute! Männer und Frauen sind nicht mehr, was sie mal waren, ja, sie schämen sich, Männer und Frauen zu sein, sie sind geknechtet in ihrem tiefsten Sein!
Mona, die Skeptikerin, warf von ihrem Mutterposten ein: Das halte ich für falsch, und es interessiert mich auch nicht.
Das missfiel dem Opa: Mona sei noch viel zu sehr vom Verstand regiert. Ob sie manchmal einen Rock trage? – Mona bejahte stirnrunzelnd.
Sybille monologisierte weiter über Frauen, die Röcke und auf den Armen Kinder tragen, und die von richtigen Männern beschützt werden wollen. Männlichkeit sei bitter nötig in unseren Zeiten, in denen Flüchtlinge deutsche Frauen vergewaltigten. – Der Christian!, schrie Sybille, – der Christian hat sich hier draußen endlich zum Mann entwickelt! Urschreitherapie und Holzhacken haben Wunder vollbracht!!
Christian, ein Lulatsch mit strähnigem Pferdeschwanz, nickte. Der Rest der Runde schwieg. Mona, die sehr tapfer sein kann, sagte: Das will ich nicht hören, was Sie über Geflüchtete gesagt haben. Das kann man nicht so stehen lassen. Und ich wünsche mir eine sachlichere Leitung des Workshops, wenn Ihnen das möglich ist.
Sybille frohlockte: Komm, zeig mir deine Wut, lass mich deine Wut spüren! Und apropos: Dann sag mir doch, warum kommen denn die Flüchtlinge so geschniegelt hier an? Der Krieg da unten ist doch schon lange vorbei! Aber jetzt – ganz plötzlich – alles voller Flüchtlinge!
Der Krieg ist nicht vorbei, beharrte Mona. Täglich fallen Bomben …
Ja, beziehst du deine Informationen noch von ARD und ZDF?!, höhnte Sybille, – dann ist dir wirklich nicht zu helfen! – Ich will eine neue Aufstellung!, unterbrach sie sich. – Nadine, du bist ich. Mona, du stellst die Flüchtlinge dar. Du auch, Mel, und du, Ute … Ich brauche mehr Menschen! Und die Neonazis – alles voller Nazis …!
Nadine, eine Glaubensgefährtin von Sybille – Wir kennen uns vom Connected Healing! –, stellte sich hinter sie, warf die Arme hoch und wand sich in Gesten der Anklage und des Zorns.
Ich stelle nichts mehr dar, sagte Mona, der zum Heulen zumute war. Auch in der übrigen Runde, die eine Zeitlang wie gelähmt da gesessen hatte, verbreitete sich jetzt Unruhe. Als Mona hinausging, folgten ihr erst Ute und dann, zögernd, der Rest der Gruppe. Der letzte Blick in den Raum offenbarte, dass Sybille-Nadine sich inzwischen mit einem Springseil selbst gefesselt hatte. Christian hielt das andere Ende der bunten Schnur.
Mona hat sich durch dieses Erlebnis in ihrer Ablehnung von Esoterik radikalisiert, und ich radikalisiere mich mit. Blöd nur, dass Mona und ich nicht die Einzigen sind, die sich radikalisieren. Solche wie Sybille hat es die ganze Zeit über gegeben; doch zunehmend nehmen sie kein Blatt mehr vor den Mund und kredenzen ihren Giftcocktail aus esoterischem Müll, Deutschnationalismus und Sexismus ganz ohne freiheitlich-demokratischen Zuckerrand. Räucherstäbchen verkleben die Synapsen!, pöbelt Mona, und wir lachen böse und hilflos. Man steht hilflos vor dieser plumpen Idiotie, die sich nicht einmal mehr parodieren lässt. Man will Witze machen; doch sie werden schal angesichts des Verdachts, dass die Zeiten rauer und verrückter werden. Kritik durch Darstellung bringt nicht mehr viel, wenn tatsächlich immer mehr Menschen sybillinischem Schwachsinn verfallen – oder wie eine stumme Herde Schäfchen da hocken und Grünes kauen, wenn jemand solchen Schwachsinn äußert.
Nicht nur in der grünen Einöde Thüringens kriechen die Nazis und die Esos aus ihren Löchern; überall vermengen sie sich miteinander und mit einer nicht unerheblichen Anzahl besorgter Bürger und Lügenpresse-Ruferinnen und tun alles, um sich nicht vom Verstand regieren zu lassen. An Deutschland in der Nacht zu denken, ist nicht schöner geworden – nicht um Deutschlands willen, sondern aus Sorge um diejenigen, gegen die der neue deutsche Wahn sich richtet.
Großartig!! Das erinnert mich an eine Familienaufstellung der Freundinnen meiner Mutter in unserem Wohnzimmer, in die ich hineingeplatzt bin, als (nennen wir sie) Renate gerade eine Rolle von (sagen wir) Ingrid mit den Worten „Und du bist der Panzer!“ zugewiesen bekam. Später sagte der Panzer noch: „Ich muss jetzt schießen, Ingrid, auch wenn ich es nicht will.“
Bei Familienaufstellungen der Nachkriegsgeneration hat man es offenbar noch mit ganz anderen Herausforderungen zu tun…