Liebe Anwesende,
am 16. September wurde die junge iranische Kurdin Mahsa Amini ermordet. Mahsa Amini – oder auch Jina Amini, um ihren kurdischen Namen zu nennen, den sie im Iran nicht tragen durfte – Mahsa Amini musste sterben, weil ihr Kopftuch angeblich nicht genügend ihr Haar verdeckte. Der Sittenpolizei war ihre Kopfbedeckung nicht islamisch genug. Deshalb entführten sie Mahsa Amini auf offener Straße und verletzten sie so schwer, dass sie im Krankenhaus ihren Schädelverletzungen erlag.
Die Proteste, die seither im Iran ausgebrochen sind und sich immer weiter ausbreiten, zeigen den Mut und die Wut vor allem iranischer Frauen. Viele gehen ohne Kopftuch auf die Straße – was im Iran ein Verbrechen darstellt – oder verbrennen ihr Kopftuch auf öffentlichen Plätzen. Einige Frauen schneiden öffentlich ihr Haar ab, um ihre Trauer und ihren Zorn über Mahsa Aminis Ermordung kundzutun. Verwackelte Handyvideos in den sozialen Medien zeigen Frauen – Hausfrauen, Berufstätige, Studentinnen, Schülerinnen – an vorderster Front der Proteste. Viele Männer und viele Angehörige der LGBTI-Community teilen ihr Anliegen, auch viele Kurdinnen und Kurden. Die Demonstrationen, die bereits viele Verletzte und einige Todesopfer gekostet haben, richten sich gegen die Frauenverachtung der selbsternannten Islamischen Republik, aber auch gegen die Brutalität der Ordnungsorgane, die sozialen Missstände und die Unterdrückung der Kurd*innen im Iran.
Aus feministischer Perspektive ist es wichtig, Mahsa Aminis Ermordung als Femizid zu benennen: ein Mord an einer Frau, einfach, weil sie eine Frau ist oder weil sie in den Augen einer patriarchalen Ordnung als Frauen versagt hat. Das Recht von Frauen, über den eigenen Körper zu bestimmen – das eigene Aussehen, die eigene Kleidung, das eigene Verhalten, das eigene Liebesleben – wird überall auf der Welt von patriarchalen Institutionen angegriffen. Die iranische Sittenpolizei ist nur ein besonders perverses Beispiel dafür.
Jina Aminis schrecklichen Tod als Femizid anzuprangern, macht ihn zum Teil einer transnationalen Kette von Frauenmorden, die von einer transnationalen feministischen Bewegung bekämpft werden muss. Ihr Tod und die Proteste, die darauf folgten und folgen, spielen sich nicht einfach irgendwo weit weg ab.
Patriarchale Gewalt bis hin zum Femizid findet auch hierzulande statt. Dazu muss man sich nur die Berichte von Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen ansehen oder die BKA-Statistik über partnerschaftliche Gewalt mit Todesfolge. Seit 2011 sind in Leipzig mindestens 13 Frauen Femiziden zum Opfer gefallen. Soweit ich das überblicke, wurden sie nicht direkt von der Polizei oder anderen staatlichen Organen getötet. Ihre Mörder waren Lebenspartner, Ex-Partner oder andere, private Männerbekanntschaften. Es war nicht der Staat, der sich anmaßte, ihr Aussehen oder ihre Sexualmoral zu verurteilen – oder ihre angeblich mangelnde „Bescheidenheit“, wie es im islamistischen Jargon heißt. Es war nicht der Staat, der diese Frauen getötet hat. Das ist ein wichtiger Unterschied zum Mord an Jina Amini. Aktivistinnen der transnationalen Bewegung gegen Femizide Ni Una Menos haben die Ermordung von Jina Amini zu Recht als „staatlichen Feminizid“ bezeichnet – im Unterschied zu Intim-Femiziden.
Aber alle Femizide haben gesellschaftliche Ursachen. Das Problem ist das Patriarchat – ob es uns nun in Gestalt der Sittenpolizei oder eines mörderischen Ehemannes oder Vaters entgegentritt. Femizide verweisen auf die ökonomische, rechtliche, religiöse und emotionale Abhängigkeit, in der viele Frauen und Mädchen leben – überall auf der Welt. Abhängigkeit begünstigt Gewalt – überall auf der Welt. Patriarchale Gewalt hat viele Gesichter.
Femizide sind keine Beziehungstragödien und keine exotischen Gewaltexzesse. Sie gehen uns alle etwas an. Das zeigt sich ganz konkret im Fall von Mahsa/Jina Amini und den sozialen Protesten gegen das Regime im Iran.
Am Donnerstag sollte Mina Ahadi hier in Leipzig einen Vortrag über reproduktive Selbstbestimmung im Iran halten. Mina Ahadi ist eine exiliranische Feministin und Kommunistin, die sich seit vielen Jahrzehnten für die Rechte der Frauen im Iran einsetzt. Sie ist Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime und engagiert sich gegen die staatliche Steinigung von Frauen, die des Ehebruchs fürs schuldig befunden wurden.
Wegen dieses Engagements lebt Mina Ahadi unter Polizeischutz und erhält immer wieder Todesdrohungen von Islamisten. In den letzten Tagen hat sie öffentlich die Todesstrafe angeprangert, die über zwei lesbische Iranerinnen verhängt wurde. Außerdem hat sie den iranischen Staat für Mahsa Aminis Tod angeklagt. Seither haben die Todesdrohungen zugenommen. Mina Ahadi bekam Nachrichten, in denen ganz deutlich stand, dass sie diese Woche und den Vortrag in Leipzig nicht überleben werde. Es gab Bombendrohungen gegen den Veranstaltungsort, das Institut für Zukunft. In Absprache mit der Polizei fand der Vortrag schließlich online statt. Solche Kompromisse muss Mina Ahadi eingehen, um hierzulande politisch aktiv zu sein – und einfach, um zu überleben.
Der Islamismus ist eine der fürchterlichsten und virulentesten Ausprägungen des Patriarchats. Seien es das iranische, das türkische oder das saudi-arabische Regime, sei es der sogenannte Islamische Staat oder die Grauen Wölfe: Überall, wo Islamisten Macht und Einfluss haben, dürfen Frauen nicht zu Wort kommen. Überall, wo sie Macht haben, müssen sich Frauen verhüllen und verstecken. Der Kopftuchzwang ist ein wichtiger Machtpfeiler der islamistischen Ideologie. Islamisten sind beherrscht von ihrer Angst vor dem Freiheitswillen und der Stärke und der Schönheit von Frauen.
Daher möchte ich mit der Losung des kurdischen Freiheitskampfs schließen: Frauen – Leben – Freiheit!
Die iranische Frauenbewegung verkündete schon 1979: Die Freiheit von Frauen ist nicht westlich, nicht östlich, sondern universal!
Und ich möchte die Worte von Ni Una Menos hinzufügen: Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle! Keine mehr!
Feministische Solidarität mit den Protesten im Iran!
(Disclaimer: Ich habe diesen Redebeitrag letztlich nicht gehalten, sondern die deutsche Übersetzung einer Rede iranischer Aktivist*innen verlesen. Überdies hätte ich ihn nur in einer gekürzten, mit den Organisator*innen der Kundgebung abgesprochenen Version gehalten. Dieser Redebeitrag spiegelt also nur meine eigene Meinung wider, für seinen Inhalt bin allein ich verantwortlich. Er kann aber gern wiederverwendet oder als Vorlage für eigene Redebeiträge verwendet werden.)